Philosophie

Die Essbare Alchemie hat sich drei Grundsätzen verschrieben: Gesundheit, Ökologie, Geschmack. Es gehört zum Kern der Philosophie, dass die drei Hand in Hand in Hand gehen und sich gegenseitig bedingen. Das kann man dann ganzheitlich nennen. Oder – ein bisschen altbacken, aber weise – gedeihlich. Mensch und Natur sollen gedeihen. In einem unserer Artikel im Blog (auf Englisch) haben wir uns für epikureisch entschieden, denn auch Epikur glaubte, dass gesundes, gutes und genussreiches Leben eins sind.

Aus all diesen Gründen und weil das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile ist, werden sich in allen drei Bereichen immer wieder Überschneidungen finden…

Gesund, nachhaltig, lecker: Vielerlei (Un)Kraut ist gedeihlich. (Foto: Frank Sperling)

 

Gesundheit

Fermentation macht Nahrungsmittel bekömmlicher

Fermentation macht viele Nahrungsmittel leichter verdaulich. Manchmal werden Schadstoffe abgebaut, manchmal werden Nährstoffe zugänglich. Manchmal beides. Drei von (sehr) vielen Beispielen: 

  1. Roher Kohl ist schwer verdaulich, was sich auch – unangenehm – im Verdauungstrakt bemerkbar macht; weil wir keine Kühe mit vier Mägen sind, sollte man die Aufspaltung von komplexen Kohlenhydraten und Aminosäuren lieber außerhalb unseres Verdauungstrakts stattfinden lassen. Zum Beispiel im Einmachglas! 
  2. Fast alle Hülsenfrüchte haben zu viel Phytinsäure. Das behindert die Aufnahme von Eisen, Calcium und Magnesium; Einweichen und Fermentieren sind für die Nährstoffaufnahme und die Verträglichkeit von Kichererbsen oder Linsen ungefähr so wichtig wie das Kochen. Und auf die Idee, Hülsenfrüchte roh zu essen, kommt ja auch keiner, oder?!
  3. Getreide ist sehr schwer verdaulich für den Menschen; gemahlenes Getreide, also Mehl, mit einer Sorte Industriehefe behandelt und zu Brot gebacken ist schon besser; aber nochmal deutlich besser verdaulich ist Getreide als Sauerteigbrot, da werden uns die komplexen Komplexen Kohlenhydrate nämlich mit über 30 verschiedenen natürlichen Bakterien und Hefen zugänglich gemacht. Zum Beispiel von Cornelius, unserem 155 Jahre alten Sauerteig Mutterteig.
sourdough on hands
Immer ran an die freundlichen Mikroben (= Bakterien & Hefen)! Cornelius, der Sauerteig.

 

Probiotisch, nicht antibiotisch

Durch Fermentation werden Nahrungsmittel lebendig. Bakterien waren lange Zeit verpönt, doch in den letzten Jahren scheinen es selbst immer größere Teile des Mainstreams zu kapieren: Alles abtöten, was lebt, macht uns nicht gesund sondern krank. Das Gegenteil von Antibiotika sind Probiotika, die freundlichen Bakterien in unseren Fermenten. Leider wurden in der westlichen Fast-Food- und Supermarkt-Kultur Omas Einmachgläser (und in Deutschland Sauerkrautfässer) links liegen gelassen. Alles ist ja sowieso schön lang haltbar. Auch ohne Fermentation. Wir haben ja Konservierungsstoffe und Ultrahocherhitzung. Die Nahrungsmittel aus dem Supermarkt sind zwar – meistens – nicht antibiotisch, aber auch nicht probiotisch. Sind sind ganz einfach tot. Die Folge: Unser Mikrobiom verarmt.

 

Essen als Medizin

„Euer Essen soll eure Medizin sein, Eure Medizin euer Essen.“ Schon wieder alte Griechen (Hippokrates), aber eben auch ziemlich gut. Wir halten nichts von Nahrungsergänzungsmitteln. Probiotisches Essen ist besser als probiotische Pillen. Einer von vielen Gründen: Die probiotischen Pillen haben keine Präbiotika, Stoffe, die die Wirkung der Probiotika erst ermöglichen. Konkret: Ballaststoffe, die die Dünndarm Aktivität anregen. Den Probiotika fehlt ihr Kontext. Probiotische Nahrungsmittel sind außerdem ein Genuss – hoffentlich 😉 -, und allein das ist der Gesundheit zuträglicher als ein paar Tabletten einwerfen.

 

Gesundes Mikrobiom – Gesunde Immunabwehr!

Ca 70% der Immunzellen werden im Darm gebildet. Das Mikrobiom im Darm ist die Voraussetzung für ein gesundes Immunsystem. Artenreichtum und Anzahl der Bakterien, also Qualität und Quantität, lassen sich durch eine diverse Ernährung steigern. Auf Dauer. Im Moment ist sich die Forschung allerdings nicht einig, wie viel Zeit das erfordert. Der sogenannte umgekehrte Beweis existiert, wie oben erwähnt, dass hochverarbeitete Nahrung/ fastfood das Mikrobiom verarmen lässt. Es ist kompliziert. Wir reden von ca. 1.000 verschiedenen Arten und insgesamt ca. 100 Billionen Mikroben, die sich untereinander beeinflussen. 100.000.000.000.000. Bei gesunden Menschen. 

diorama of the microbiome
Das Mikrobiom im Diarama von Luisa Orundo & Gwendolyn Noltes

 

Das zweite Gehirn

In letzter Zeit wird der Darm immer häufiger als „Zweites Gehirn“ bezeichnet. Stoffe, bei denen wir wie selbstverständlich davon ausgehen, dass sie im Oberstübchen gebildet werden, kommen in Wirklichkeit aus dem Darm und werden über den Vagusnerv nach oben geschickt. Zum Beispiel Dopamin und Serotonin. Der Stoff, aus dem die gute Laune ist! Deine natürlichen Antidepressiva. Die westliche Kultur hat metaphorisch gesprochen eher Herzschmerz, wenn was nicht in Ordnung ist. In vielen anderen Kulturen ist es immer der Bauch. Aber auch auch uns „schlägt etwas auf den Magen“, beziehungsweise “bereitet uns Bauchschmerzen”. 

Im Tierversuch hat man das Mikrobiom einer neugierigen Maus mit dem einer depressiven getauscht. Das Resultat war tatsächlich, dass sich das Verhalten umgedreht hat. Das Gleiche gilt für den Tausch des Mikrobioms einer fitten, aktiven Maus mit dem einer lethargischen, übergewichtigen: Das Verhalten und sogar das Essverhalten drehen sich um!

 

Die Dosis macht das Gift.

Diesmal kein Grieche, sondern Paracelsus. Wir müssen das oft zu begeisterten Neualchemist*innen sagen, die sich – zum Beispiel – fest entschlossen haben, einen Liter Kombucha am Tag zu trinken. Zu viel Histamin. Oder ein großes Glas Kimchi pro Tag zu essen. Zu viel Salz. (Unter anderem.) Lieber von allem ein bisschen, das schmeckt auch viel besser. Außerdem sind Kombucha, Kimchi & Co auch in kleinerer Dosis sehr nährstoffreich. Besser holt man sich eine weitere Dosis anderer Fermente, anderer Nährstoffe und Nährstoffkombinationen, und erfreut die Geschmacksknospen durch die Abwechslung. Ein typisches Beispiel wie gesund und lecker zusammenhängen.

Egal was es ist, wenn man ein Nahrungsmittel in großen Mengen viele Tage hintereinander isst, dann kann man es irgendwann nicht mehr sehen. Konsumiert man es trotzdem weiter, sagt der Körper irgendwann Nein. Zum Beispiel durch Unverträglichkeiten. Es gibt nicht das eine Superfood. Auch nicht im Reich der Fermentation. Super ist es, wenn man viele verschiedene rohe, viele verschiedene gekochte, und viele verschiedene fermentierte Nahrungsmittel zu sich nimmt. #3Deating 

dropping droplets of sweet woodruff essence  into a drink
Detox/ retox an der Bakterienbar! Rote Beete Wasserkefir mit Waldmeistertinktur!

 

Ökologie

Lebensmittel Retten

Fermentation bedeutet Lebensmittelabfälle vermeiden. Beziehungsweise Containern Deluxe! Es wird so viel Gemüse schlecht und landet im Müll. Auch Backwaren stehen ganz oben auf der Liste. Zuhause, aber auch bereits vorher bei Händlern und Zwischenhändlern. Sauerteigbrot wird auch außerhalb des Kühlschranks nicht schlecht. Höchstens hart. Und dann kann man immer noch Croutons, Klöße oder Kvass draus machen…

Bei den Feldfrüchten müssen wir etwas weiter ausholen: Besonders wenn Saison ist, wird extrem viel auf einmal geerntet und auch zu niedrigen Preisen können die Händler nicht derart große Mengen verkaufen. Also wird vieles über Monate hinweg in Kühllager gebracht. Damit man es das ganze Jahr über „frisch“ anbieten kann. Ziemlich CO2 intensive Praxis. Wenn man die Lebensmittel zur Erntezeit fachkundig fermentiert, gewinnt die Milchsäuregärung/ Laktofermentation die Oberhand, und man rettet Lebensmittel ohne gleich alles auf einmal essen zu müssen. Selbst kurz vor dem Verderben sauer eingemachte Nahrungsmittel werden wie von Zauberhand wieder knackig und können monatelang konsumiert werden: Essbare Alchemie! 

Mitteleuropa hat zu (fast) allen Jahreszeiten so viel leckeres zu bieten: Beeren, Steinfrüchte, Hülsenfrüchte, zig Getreidesorten, Kohl, Rüben, Kürbisgewächse, usw…. Fermentationsprozesse und die Lagerung bei Zimmer-/ Kellertemperatur sind fast CO2-neutral. Wer fermentiert, was es gerade zur jeweiligen Jahreszeit im Überfluss gibt, hat dann ein, zwei, drei Monate später, zum Beispiel im Winter, weniger Grund tropische Früchte zu kaufen. Denn die werden entweder eingeflogen, dann sind sie ein ökologisches Desaster, oder sehr unreif geerntet und kommen mit dem Containerschiff. Dann sind sie immer noch ein ökologisches Desaster, haben außerdem weniger Nährstoffe und schmecken nach wenig. Wie kommt es, dass eine ganze Kiste Mangos auf dem Maybachufer Markt nur 2€ kostet…?

Mit fermentierten Nahrungsmitteln kann man sich abwechslungsreich ernähren und gleichzeitig das ganze Jahr über saisonal, regional und ökologisch essen.

Fermented foods in glass jars
Ein bunter Strauß Fermente! Vor der Tonne gerettet: Kohlstrunk & Blumenkohlblätter. (Foto: Katleen Roggemann)

 

Multikulti

Fremde Kulturen und ihre exotische Küche finden wir absolut faszinierend. Wenn wir nur die Kulturtechniken, oder mal ein paar Gramm Bakterienkulturen, Gewürz oder Sporen aus fernen Ländern importieren, können wir exotisch fermentieren und kochen und unseren ökologischen Fußabdruck trotzdem klein halten! Ein Gramm Sporen aus Indonesien oder Japan + Wissen + heimische Hülsenfrüchte = Kiloweise Tempeh & Miso! So sehen wir nur das freundliche Gesicht der Globalisierung!

 

Kraut & Unkraut

Lasst uns mehr (Un)Kraut essen! Löwenzahn, Brennnessel, Giersch, Vogelmiere, Gänseblümchen, Gänsefuß, Schafgarbe, Franzosenkraut, Gundermann – fertig ist der Pflücksalat! Auf Hipstersprech heißt das Zeug Microgreens. Schmeckt besser als Industriekopfsalat, hat mehr Nährstoffe, und hat nullkommanull ökologischen Fußabdruck. Ach Du grüne Neune!

man talking about mullein
Königskerze. Weder micro, noch Microgreen. Frag(t) uns bei der nächsten Tour! Stichwort: "Survival". (Foto: Frank Sperling)

 

Geschmack

Umami

Umami (von japanisch ume „lecker“) ist der runde Geschmack reifer Fermente und – ganz offiziell und wissenschaftlich – eine von fünf Geschmacksrichtungen. Süß, sauer, salzig, bitter, umami. Warum brauchen wir ein japanisches Wort? Weil in der modernen deutschen Küche leider ziemlich wenig los ist mit umami. Hauptsächlich Fleisch, Röstzwiebeln und hochverarbeitetes Glutamat (Maggi, Paprikachips, das asiatische Restaurant um die Ecke). Die Essbare Alchemie kann hier weiterhelfen: Kimchi & Kraut sind umami, Miso ist umami, reifes Ingwerbier ist umami. Man muss nur wissen, wie man den alchemistischen (mikrobiellen) Prozess auf den Weg bringt und ihm dann ein bisschen Zeit geben…

miso in a jar
2,7 L Glas Miso. Das vegane umami-Äquivalent zu 1 Million Currywürsten. Circa.

 

Fusion

Überall auf der Welt finden sich die verschiedensten Fermentationstechniken. Die neue Fusion in der Küche erzeugt exotische Geschmäcker durch die Anwendung von fremden Kulturtechniken auf heimische Feldfrüchte. Man nehme die tollen Brandenburger Steinfrüchte, zum Beispiel Pflaumen, salze sie, fermentiere sie, trockne sie: und schon landet man bei den – völlig abgefahrenen – “japanischen” Umeboshi! Die sind süß, sauer, salzig und umami gleichzeitig. Ach ja, und natürlich probiotisch und gut für die Verdauung. 

 

Die Dritte Dimension

Fermentation ist die Dritte Dimension in der Küche. Mit rohen und gekochten Bestandteil sind Gerichte zwar nicht ein-, aber, nun ja, zweidimensional. Das ist keine neue Erkenntnis von uns, die Beigabe von fermentierten Nahrungsmitteln war einmal so normal wie die Kombination der fünf Geschmacksrichtungen. Saucen wie Ketchup, Senf oder Tabasco, Beilagen wie Kimchi, Kraut oder saure Gurken – alle waren sie fermentiert! Heute sind sie meistens mit (nicht probiotischem) Essig oder Konservierungsstoffen haltbar gemacht worden. Aber es ist eben nicht dasselbe. Nicht für den Magen, und auch nicht für die Geschmacksknospen.

Die Nordic Food Revolution in der Sterneküche bringt gerade die dritte Dimension zurück auf den Speiseplan. Danke, Noma! Die französische Nouvelle Cuisine, bei der immer alles frisch sein muss, ist ein alter Hut geworden. Der Gault & Millau, neben dem Guide Michelin der ‘wichtigste’ highend Restaurantführer, hatte sauer eingemachtes Gemüse bis 2014 auf seiner schwarzen Liste der No-Gos. Wie es dazu kam und warum sich der Wind dann gedreht hat, darüber können wir gerne beim nächsten 52-Seasons Dinner eine philosophische Diskussion führen!

sustainable hedonism vegan meat
Grünkern aus Unterfranken, Maronenröhrlinge aus dem Spreewald, Sonnenblumensprossen vom Balkon. (Foto: Katleen Roggemann)